Leseprobe: IM TAL DES WEIßEN TIGERS
Auszug aus Kapitel 3 und 4
"Ich muss runter!", schrie Will. "Sichert euch mit den Karabinerhaken! Es kann eine harte Landung geben!" Er packte das Funkgerät und rief etwas hinein, das der Wind nicht bis an Caras Ohr gelangen ließ.
Der Sturm wirbelte sie herum wie Spielzeug. Heftiger Regen setzte ein, schien von allen Seiten gleichzeitig zu kommen. Cara schrie in Panik, als sie eine Felswand erkannte, keine fünfzig Meter vor ihnen. Der Sturm trieb sie direkt darauf zu. "Da! Die Wand! Wir zerschellen!"
Ein Ruck! Ihr Magen drehte sich um. Hinter ihr brüllte Archie etwas Unverständliches. Der Sturm heulte und tobte, sie waren jetzt mittendrin, ein Kinderspielzeug inmitten der Naturgewalten. Wasser schlug ihnen ins Gesicht. Schon wurden sie an der Felswand vorbei gerissen, der Ballon raste dem Korb voraus, war kaum höher als sie, und dann war er wieder über ihnen, wie von einer Riesenfaust nach oben geschleudert, rasend schnell, höher, höher, wie ein Aufzug in einem endlosen Wolkenkratzer, in eine neblige Dunkelheit hinein, und Cara bekam keine Luft mehr. Der Ballonkorb machte einen heftigen Schlenker, als wollte er seinen Inhalt in die Tiefe schütten. Gut, dass sie angehakt waren. Keiner von ihnen hätte sich mehr halten können. Will hatte es aufgegeben, die Leinen zu bedienen.
Wieder ein gewaltiger Ruck. Sie wurden in eine andere Richtung geschleudert. Statt weiter nach oben ging es jetzt in rasender Fahrt nach – wohin? Nach Westen? Norden? Sie waren völlig orientierungslos. Das Wasser wurde zu Eisregen, der auf den bloßen Hautpartien schmerzte wie Stahlnadeln. Will hangelte nach dem Kompass, hielt ihn Cara und Archie hin, aber das Gerät war nutzlos. Die Anzeige tanzte hin und her. Die Nässe brannte in Caras Augen. Der Sturm pfiff und brüllte, donnerte und orgelte über ihnen, neben ihnen, unter ihnen – in allen Richtungen, und was gerade noch links gewesen war, war jetzt oben, und nicht einmal die Ballonhülle bot ihnen Orientierung, da der Stoff hin und her und auf und ab gerissen wurde wie ein flatterndes Papierfähnchen.
Es wurde heller. Der Eisregen hörte so plötzlich auf, als habe sich ein riesiges Dach über sie geschoben.
Auf einmal eine Lücke zwischen Wolkenfetzen. Greller Silberglanz. Ein Blau. Beinahe Stille – der Wind nur noch ein Pfeifen. Es war kalt.
Vorsichtig versuchte Will sich aufzurichten. Cara sah, wie seine Beine vor ihren Augen zitterten.
"Schaut euch das an!"
Auch Cara und Archie blickten über den Rand des Korbes. Cara war augenblicklich geblendet. Erst nach und nach erkannte sie blinzelnd die schneeweiße, brodelnde Wolkenmasse, über die der Sturm sie in rasender Fahrt hinweg zerrte wie über einen endlosen Gletscher im Eismeer. Es war gespenstisch, denn über ihnen war nur blauer Himmel, der Sturm in der plötzlich klaren Luft eine geisterhafte Urkraft, deren Spielzeug sie waren.
Vor ihnen wurde ein Wolkenturm empor geschleudert, zerstob zu Nebelfetzen wie ein explodierter Feuerwerkskörper, dann noch einer. Donnerschläge pflanzten sich unter ihnen fort wie das anhaltende Grollen eines Vulkanausbruchs. Sie rasten auf einen der kochenden Wolkentürme zu, wurden darin erneut empor gerissen, tanzten dann auf einer ruhigeren Luftschicht wie ein Tennisball auf fließendem Wasser.
Will Stockingham hantierte nervös am Brenner. "Eins der Ventile ist abgebrochen", fluchte er.
"Wie hoch sind wir?", wollte Archie wissen.
"Keine Ahnung, aber wenn es stimmt, was der Höhenmesser anzeigt, sind wir schon seit etwa zwanzig Minuten tot."
Seltsam, vorhin hatte Cara sich noch über seinen Sarkasmus aufgeregt. Jetzt fand sie ihn tröstlich. Es war etwas Menschliches in diesem gewaltigen Inferno.
Als Cara den Blick aus dem grellen Licht abwandte und nach achtern sah, entdeckte sie etwas in der Ferne. Sie stieß Will Stockingham an. "Da! Das muss einer der anderen Ballons sein!" Der Gegenstand sah nicht größer aus als ein Stecknadelkopf und schoss am Rande einer der Protuberanzen in die Höhe.
Will riss das Fernglas aus seinem Gürtel, presste es vor die Augen. Einen Moment später reichte er es Archie. Der suchte den Horizont ab, ließ das Glas sinken.
"Was ist?" Cara nahm ihm das Gerät ab, fand den roten Punkt, stieß ein Keuchen aus.
Das war kein Ballon.
Es war nichts als ein Fetzen aus einer zerstörten Ballonhülle. Nur langsam drang in ihr Bewusstsein, was das zu bedeuten hatte.
4.: Verirrt
Es war Nacht, und alles tat Cara weh. Sie konnte sich nicht bewegen. Die Haut brannte. Sie wusste weder, was passiert war, noch in welcher Lage sie sich befand. Ein seltsames Summen und Rauschen war um sie her. Etwas wühlte in ihren Arm wie ein Messer. Wieder erlosch das Bewusstsein, das nur für Sekunden aufgeflackert war.
Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als sie mit Mühe die Augen auf bekam. Ringsum war nichts als ein dämmeriger Nebel. Das Rauschen war lauter geworden. Alles an ihr war nass. Das Atmen war schwer wie in einem Dampfbad.
Durch den zerfetzten Stoff ihrer Hose schimmerte ein Knie, knapp eine Handbreite vor ihren Augen. In der Luft war ein Schwirren und Gluckern, durchsetzt von unzähligen unbekannten Geräuschen und dem einsam verhallenden Schrei eines fernen namenlosen Vogels.
Zuerst glaubte Cara sich in einem Käfig irgendwo in einem dumpfen Keller. Dann verwandelten sich die Gitterstäbe in Äste und Schlingpflanzen. Caras Gliedmaßen waren taub. Als sie versuchte, sich zu bewegen, durchfuhr sie von der Schulter her ein heftiger Schmerz. Sie rollte sich zur Seite, rutschte und fand keinen Halt. Mit hässlichem Krachen sackte sie nach unten und pendelte gleich darauf in einer Matte aus verfilzten, zum Teil abgestorbenen Schlingpflanzen. Eine leuchtend grüne Libelle, größer als ein Handteller, sprang vor ihr Gesicht, schwarze Facetten-Augen mit den Ausmaßen eines Rundfunk-Mikrofons starrten sie an. Cara spürte Schweiß auf der Stirn. Sie wusste, das Libellen weder stechen noch beißen konnten, aber galten hier, wo sie war, nicht vielleicht andere Regeln? Das Rieseninsekt schien zum Glück keinen Gefallen an ihr zu finden und schwirrte außer Sicht.
Wo war sie überhaupt?
Vorsichtig drehte Cara den Kopf zur Seite.
Wald. Ein dichtes Blätterdach. Fauliger Gestank, Moskitos, Schlingpflanzen, Lianen. Erst als sie es schaffte, nach unten zu schauen, sah sie, dass sie mindestens vier Meter hoch über brackigem schwarzem Wasser hing. Unzählige Insekten schwirrten dicht über der Oberfläche.
Ich muss da hinunter, überlegte sie und fragte sich, wie tief dieses Wasser sein mochte. Wahrscheinlich war darunter noch unergründlicher Morast. Das Flechtwerk, in dem sie hing, gehörte zu niedrigeren Mangrovenbäumen, die bis in höchstens fünfzehn Meter Höhe ragten – dazwischen waren einzelne Baumstämme, die nach oben durch das Blätterdach verschwanden. Diese Stämme stützten sich durch unzählige Pfahlwurzeln und Stelzen, die undurchdringliche Labyrinthe im schwarzen Wasser bildeten. Andere Pflanzen, die in Astgabeln wuchsen oder dichte Nester zwischen Lianen bildeten, erreichten mit ihren Wurzeln nicht einmal die Wasserfläche: Ihnen genügte die Feuchtigkeit der Luft zum Überleben. Überall triefte die warme Nässe von den Blättern.
Etwas Schweres berührte ihr linkes Bein. Cara bemerkte erst jetzt, dass sie die Knie angezogen hatte und so in den Schlingen hing wie ein Baby in einem Tragetuch. Der Blick auf ihr Bein ließ das Blut in ihren Adern erstarren.
Eine Schlange schob sich langsam von einem nahen Ast zu ihr herüber. Der mittlere Teil des grün und braun schillernden Schuppenleibes wickelte sich um ihre Wade, während der Kopf des Tieres hin und her pendelte, auf der Suche nach einem neuen Halt. Cara wagte nicht, zu atmen oder sich zu bewegen. Krampfhaft hielt sie ihr Bein starr, das die Schlange hoffentlich für ein Stück Holz hielt. Dann hatte das Tier einen Ast gefunden, der stark genug war, um es zu halten, glitt mit dem Vorderteil hinüber, zog den Rest nach.
Durch das plötzlich geringere Gewicht federte Caras Bein, rutschte ab, Äste und abgestorbene Lianen knackten, und Cara glitt mit einem Aufschrei in die Tiefe. Knapp über dem Wasser blieb sie im Dickicht der Mangrovenwurzeln hängen. Ihr linker Arm schmerzte höllisch, und der faulige Geruch unter ihr wurde unerträglich. Jetzt hatten auch die Insekten sie entdeckt und fielen blutdurstig über sie her.
Verzweifelt kramte Cara in ihrem Gedächtnis nach allem, was sie über Mangrovensümpfe wusste. Breite Baumgürtel am morastigen Ufer eines Sees oder an der Meeresküste. Bewohner: Insekten, Wasserschlangen, Krebse, Krokodile, Piranhas. Nein, Piranhas gab es hier sicher nicht, die lebten am Amazonas und seinen Nebenflüssen. Aber vielleicht andere Fische, die Fleisch fraßen? Arten, die von Forschern noch gar nicht entdeckt und dreimal so gefräßig waren?
Krokodile? Höchstwahrscheinlich. Meist sahen sie zuerst aus wie im Wasser vermodernde Baumstämme, zum Beispiel wie die beiden da schräg unter ihr, konnten Tage lang regungslos und faul im Schlamm liegen, und wenn man sich in erreichbarer Nähe bewegte, waren sie plötzlich blitzschnell wie abgeschossene Sprungfedern.
Ich muss hier weg, dachte sie. Ich muss sofort hier weg.